31.01.06
Erinnerungen an meinen Professor
"Ich hoffe, auch Sie dahinten können mich einigermaßen verstehen"
Das war sein erster und letzter Versuch, den Studenten das Gefühl zu geben, ihre Anwesenheit im Hörsaal könnte irgendeinen Einfluss auf den Vortrag nehmen, der nun beginnen sollte. So war es dann auch aus seiner Sicht nur konsequent, nach ein paar einleitenden Sätzen das Mikrofon wieder beiseite zu legen und im weiteren Verlauf der Veranstaltung die wesentlichen Punkte seiner Vorlesung ausschliesslich mit jenen Kommilitonen zu diskutieren, die sich aus unerklärlichen Gründen in die vorderen Reihen gesetzt hatten.
Man kann es ihm aber nicht ohne weiteres als Ignoranz anlasten, wenn er dabei stets großzügig über die entnervten "Lauter bitte!"-Rufe der hinteren Bänke hinwegsah. Sein Hörvermögen war nämlich Berichten aus zweiter Hand zufolge noch weit eingeschränkter als seine Mobilität, von welcher jedermann Zeugnis ablegen konnte, der sich nach einem die Pünktlichkeit gerade noch wahrenden Kurzsprint in den Hörsaal darüber ärgerte, die erste Hälfte der Doppelstunde auf den Vortragenden zu warten, der noch sechseinhalb, dann sechs, dann fünfeinhalb Meter von der Tür bis zum Podium zurücklegen, zwei volle Stufen erklimmen und dann seinen Platz einnehmen musste. "Nein, nein, das geht schon, danke.", war seine Antwort auf Hilfsangebote von eher ungeduldigen und daher eher unbeliebten Studenten, die jedoch nicht der Wahrheit entsprach, sofern man davon ausgeht, dass es nicht mehr "geht", sobald jemand mit dem Oberkörper über seinem Gehstock liegt und dabei mit den Händen die Beine nachzuziehen versucht.
Hinzu kommt aber, dass er gerüchteweise bereits tot war.
In dieser Tatsache ist an sich nichts Ungewöhnliches zu erblicken, solange man bei der Bewertung der Sachlage fairerweise berücksichtigt, dass der Zeitraum seiner unbegründeten Abwesenheit nicht weniger als 14 Monate betrug und erst in dem Moment beendet war, als er von ehemaligen Studenten zufällig als Reiseteilnehmer einer geheimen "Guerilla"-Forschungsgruppe in Mittelamerika enttarnt, von den zuständigen Behörden im Hinterland aufgelesen und der Bundesrepublik anschliessend wieder überstellt wurde.
Bemerkenswert ist vielmehr, dass die Gerüchte von seinem Ableben auch dann nicht verstummen wollten, als er, zurück in der Zivilisation, einige Zeit später wieder Vorlesungen hielt.
Die Gründe dafür liegen sicher im Auge des individuellen Betrachters. Man mag jedoch für die Allgemeinheit sprechen, wenn man es darauf zurückführt, dass seine Sprechweise an ein unergründliches Wesen jenseits von Raum und Zeit erinnerte, welches Ungläubige mit hochfrequenten, stark verdichteten Wortwellen zu beschallen versuchte. Kommentatoren hingegen, die in charakterlicher Hinsicht ganz profan von einem "Helge Schneider, nur doppelt so alt" sprachen, kann nur in Bezug auf seinen Sprachduktus beigepflichtet werden. Dem Vergleich müsste darüber hinaus nämlich entgegengehalten werden, dass ganz offensichtlich nur Herr Schneider seine Bekleidung mindestens einmal wöchentlich zu wechseln bereit ist und man allein bei ihm sicher wäre, dass die Bemerkung "Den Russen haben wir's damals auch gezeigt, aber Leute dieses Kalibers gibt es ja in ihrer Generation nicht mehr, reissen Sich sich verdammt nochmal am Riemen, meine Damen und Herren" nicht ernst gemeint ist.
Sofern bereits erwähnt wurde, dass die Anwesenheit seiner Hörer keinen wesentlichen Einfluss auf die Gestaltung seiner Ausführungen zu nehmen vermochte, sollte noch angemerkt werden, dass dies in umgekehrter Hinsicht natürlich nicht anders war. Sofern man zwischen Sprecherpult und Publikum einen Vorhang gezogen hätte, um beide Parteien voneinander ungestört ihren Beschäftigungen nachgehen zu lassen, hätte dies dem Arbeitsklima und der Zufriedenheit beider Seiten sicherlich keinen Abbruch getan. Umso erstaunlicher wirkt da der Umstand, dass er von Zeit zu Zeit Gemurmel, das einen bestimmten Lautstärkepegel überstieg, mit der erbosten Bemerkung "Halten Sie den Mund, dies ist eine Lehrveranstaltung! Wenn Ihnen der Stoff hier zu schwierig ist, müssen Sie Medizin studieren" zu unterbinden versuchte.
Zur schmerzvollen Enttäuschung vieler Studienanfänger, die einer Begegnung mit ihm bereits seit ihrer Einschreibung entgegenfieberten, wurde er schliesslich vor zwei Jahren und schon in hohem Alter emeritiert.
Generationen von Studenten wünschen Ihnen alles Gute, Prof. Kaert!
Leute ihres Kalibers gibt es in der heutigen Generation einfach nicht mehr.
Posted by Tortellini

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